Nein, mach das nicht


„papa, nein mach das nicht“, rief eine Mädchenstimme hinter uns.

„Was soll ich nicht?“, hörten wir den verdutzten Vater. Wir blickten uns um und sahen einen mehr oder weniger sportlichen Mann auf einem Felsen stehen, der immerhin eine Höhe von 50 cm hatte. Daneben stand ein kleines Mädchen. Von der Mutter war nichts zu sehen.

„Ich kann doch hier runterspringen, was soll .. das mache ich doch immer“, sagte er und sprang. Das Mädchen kreischte vor Entsetzen.

„Was ist denn los mit dir?“, lachte der Vater.

„Ich hatte so Angst, dass Du Dir etwas tust“, sagte die Kleine.

Wir gingen weiter und hörten den Vater noch sagen, „Das ist schon lieb, dass Du Dir so Angst um mich machst. Aber das brauchst Du doch nicht. Ich bin noch viel größeren Stufen gesprungen…“

Das war auf dem Weg vom Dreisesselberg im Bayerischen Wald. Wir machten Ende Juli 2020 eine Wanderwoche in diesen Teil Deutschlands. Der Bayerische Wald hatte mich immer schon gereizt, einfach um zu sehen, wie das von dem sauren Regen der 80er Jahre verursachte Waldsterben ausgegangen war. Angeblich sollten dort Luchse anzutreffen sein. Vom Wald müsste dann in jedem Fall etwas geblieben sein. Im Geschäft hieß es auch im Sommer 2020 Urlaubstage zu nehmen, damit nicht alle im Winter nähmen. So buchten wir ein Hotel in Hohenau, in der Nähe der Glashütten, des Nationalparks und der Wandergebiete im südlichen Teil des Waldes.

Es war das einzige Hotel in dem Dorf und auch der einzige Ort, an dem nach Sonnenuntergang noch etwas getrunken werden konnte. Aus hygienischen Gründen bekamen wir einen festen Platz in der Wirtsstube zum Abendessen mit anschließendem Absacker. Die Wirtsstube hatte eine Eingangstür an einem Ende und am anderen Ende eine Ausgangstür. Auf dem Boden geklebte Pfeile verdeutlichten die Marschrichtung, damit das Virus nicht im Vorbeigehen übertragen werden konnte. Zur Sicherheit maskierte man sich auf den Wegen zum Tisch oder auch zur Toilette. Ich glaube am späteren Abend, auf dem Weg zum Zimmer, war die Maskierung nicht mehr so wichtig.

Ursprünglich wollten wir vom Hotel aus wandern, aber da hatte uns der Maßstab der Landkarte doch ziemlich getäuscht. So fuhren wir mit dem Auto zu verschiedenen Wanderparkplätzen und stürmten die Gipfel. Es waren überall, ob Lusen oder Dreisessel, immer geschlängelte Wege über Stock und Stein. Ab und an gab es Tafeln, die erklärten, was zu sehen war. Im Winter sollte man nicht zu den Auerhühnern gehen, stand auf den einen. Die anderen erklärten, dass ein Fichtenwald eine Lebensspanne von etwa vier- bis fünfhundert Jahre hätte, dann würden die Borkenkäfer sich explosionsartig vermehren und alles kahl fressen. In der Freifläche käme es dann zu einer Neuansiedlung von zunächst gemischter Vegetation, in der dann wieder Fichten überwiegen, sodass dann wieder Borkenkäfer überhandnehmen.

Brav voneinander getrennt wanderte es sich in Grüppchen. Meistens waren es Paare, mit und ohne Kinder. Manchmal waren aber auch Familien oder Freundeskreise unterwegs. Die meisten Kinder sprangen wild umher und tobten in den Felsen, aber andere, wie das oben geschilderte Mädchen, klammerten sich an ihre Eltern. An Aussichtspunkten und Bänken war unklar, ob man sich einfach dazustellen oder setzen konnte. Bei Aussichtspunkten wurde gewartet, mit Abstand, wie beim Bäcker auch, bis die Vorgängergruppe sich satt gesehen hatte. Das geschah dann auch meistens nach ein paar Minuten. Dagegen machten die Bankbesetzer kaum Anstalten, diese zu verlassen, wenn neue Grüppchen auf dem Gipfel eintrafen. So verteilten sich die Grüppchen, ebenfalls wieder mit Abstand zueinander, um die besetzten Bänke herum in der Landschaft. Man setzte sich auf Felsvorsprünge oder Baumstümpfe oder ähnlichem.

Nach jedem Gipfelsturm blieb genug Zeit vom Tage übrig, da wir erst nach Sonnenuntergang im Hotel aufschlagen wollten. Wir besuchten die Glashütten der Region und erstanden bei der Zwiesel AG zwei mundgeblasene Whiskygläser, die so teuer waren, dass wir daraus nur den ganz teuren Whisky tranken, den wir zu Weihnachten bekommen hatten. Am Eingang des Outlets sahen wir ein Video über die Glasherstellung. Sie stellten heraus, dass für neue Design immer noch mundgeblasene Kleinserien hergestellt werden. Ich habe mir den Satz gemerkt „Probieren Sie mal guten Rotwein aus einem guten Rotweinglas, dann schmecken Sie den Unterschied!“. Das habe ich daheim überprüft und es stimmt.

Daheim habe ich auch zwei rote Gläser, die wir kauften, als wir eine Goldwäscherstelle besuchen wollten. Das war auf einer Touristenkarte eingezeichnet und führte uns zu einem Dorfparkplatz. Wegweiser waren keine zu sehen, die Karte war zu undeutlich, wir sahen uns in dem Dorf um und fragten einen Herrn vor einem Geschäft. Er lachte nicht lustig und erklärte dann: „Wenn es hier Gold gäbe, dann würde ich das doch machen. Für Kinder gibt es da wohl was, da hinten den Bach hinunter.“ Kopfschüttelnd wandte er sich zu seinem Geschäft „So habe ich Gläser geblasen. Obwohl? Damit ist nun auch Schluss. Da muss alles raus“. Uns blieb gar nichts anderes übrig, als seinen Laden zu besuchen. Er bot richtige Kunstwerke an. Die roten Gläser stehen jetzt in der Vitrine und erinnern an den traurigen Glasbläser.

Einen Tag später besuchten wir eine richtige Glashütte, die angeblich seit mehreren Generationen Glas aus geschmolzenem Sand herstellte. Wir kamen gerade rechtzeitig zu einer Führung, gaben unsere Personaldaten bekannt, bezahlten, setzten die Masken auf und betraten eine hohe Halle, in deren Mitte der Schmelzofen stand. Bald wurde es zu heiß für die Maske, dafür forderte der Führer auf, doch Abstand einzuhalten, wenn man denn wollte. Unter dem Ofen, so erklärte er, brannte ständig ein Feuer, das gleichzeitig vier Tiegel heizte, in denen verschiedene Sandgemische schmolzen. Zu jedem Tiegel gehörte eine Öffnung, an der die Männer Glas zum Blasen oder zum Abschöpfen entnehmen konnten. Am Ende der Führung kam eine Glaskünstlerin in die Halle, die die Formung einer mehrfarbigen Skulptur in Auftrag gegeben hatte. Wir durften beobachten, wie muskelbepackte Männer das etwa zwanzig Kilo schwere Glasteil aus dem Ofen holte und verschiedenen Gasflammen formte, schnitt und bog, bis es so geformt war, wie die Künstlerin es skizziert hatte.

Der letzte Abend im Hotel war nach Art Oktoberfest. Im Hof galt mehr oder weniger freie Platzwahl. Wir setzten uns zu einer Gruppe Sachsen, die mit einem Bus angekommen war.

Das Essen konnte sich jeder vom Grill holen. Im Gegensatz zur Wirtsstube gab es weder Pfeile, die eine Laufrichtung vorgaben, noch Abstandsmarkierungen. Tatsächlich lästerte man mit Mitessern über das Angebot und traf auch auf Gegenverkehr.

Nach dem Grill kam die Musik. Zwei lokale Sänger mit Lederhose und Seppelhut, einer hatte eine Ziehharmonika, der andere so etwas wie eine größere Trompete stellten sich vor dem Grill. Sie freuten sich, endlich wieder auftreten zu können. Es war ja eine harte Zeit, die nun vorbei wäre.

Ihre Witze waren geschmacklos, so von dieser Art:

Sagt die Freundin zur anderen: „Du, schau mal, mein Mann bringt mir Blumen mit, da muss ich wohl wieder die Beine breitmachen“

Antwortet die Freundin: „Wir tun die immer in die Vase“

Auch die Musik war eher vom Musikantenstadl, aber es war das erste, echte Kulturerlebnis nach der Coronapanik. Das unechte Erlebnis fand einige Wochen vorher im Nationalmuseum statt. Als Abonnenten des Staatstheaters bekamen wir einen Gutschein für ein open air Konzert im Garten des Museums. Das Hygienekonzept, mit Maskenpflicht bis zum Platz und ohne Pausenwein, sah ein gemeinsames Erlebnis nicht vor.

Auf der Terrasse tranken sich etliche halbe Biere recht gut und auch der Blutwurz, ein roter Kräuterschnaps, hob die Stimmung.

Eine Sächsin setzte sich eine Maske auf und schob die Unterkante unter die Oberkante, sodass die Maske wie Lappen über der Nase hing. Sie lachte und meinte: „Heisst doch über Mund und Nase mit der Maske und nu is alles drüber“.


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