Da stolperte ich über Castaneda und seine Geschichten über seine Begegnungen mit Don Juan, einem Schamanen aus Mexiko. Die Bücher hatte ich in meiner Hippiezeit verschlungen. Und nun war sie wieder da, die Erzählung des Weges zum Wissen. Es gilt vier Feinde auf diesem Weg zu besiegen. Zunächst ist da die Angst, etwas Verkehrtes zu machen. Hat man diesen Feind besiegt und sich auf den Weg gemacht, erwartet einen die Klarheit. Alles kann man erklären und verstehen. Wer hier stehenbleibt, kommt nicht zur Macht. Also das Verständnis, wie die Dinge sind, so anwenden, dass man seinen Willen durchsetzen und die Welt gestalten kann. Trotzdem ist man sterblich und muss sich diesem letzten Feind bewusst stellen. Diesen kann man nicht überwinden, aber wenn man sich ihm stellt, wird man zum Wissenden.
Vermutlich hat Castaneda diese Geschichten erfunden. Trotzdem beschreiben diese vier Feinde etwas, das bei den Geschehnissen der vergangen fünf Jahre zu sehen und zu erfahren war.
Da ist der Einfluss der Angst. Wenn die Menschen Angst haben, verstehen sie nichts und befolgen blind Befehle. Anfangs mag es die Angst vor einer unbekannten Krankheit gewesen sein, aber ich glaube, es war eher die Angst ausgegrenzt und bestraft zu werden. Im Kollektiv blieben sie nur zwei Wochen daheim, maskierten sich und besuchten sich zu den Feiertagen nicht mehr. Wer nicht mitmachte, sollte sich schämen. Wer sich offensichtlich nicht schämte, wurde ausgegrenzt.
Im Widerstand, bei den Demonstrationen und Parteigründungen, traf ich auf Menschen, die sich nicht schämten und sich um Verständnis für die Vorgänge bemühten. Erklärungen gab es diverse. Mit einigen stimmte ich überein, andere fand ich eher seltsam. Auch hier gab es Wortführer, die gut formulierten, dann sah man sich an und nickte sich zu. So richtig organisiert war es nicht. Als es im Sommer 2022 darum ging, wie es weiter in Richtung Aufarbeitung der Maßnahmen gehen soll, zertritt man sich in links und rechts. Man hatte zwar Klarheit und Verständnis, aber keine wirkliche Macht etwas zu verändern.
Macht haben bedeutet, den Kampf zu gewinnen, den eigenen Standpunkt durchzusetzen. Leider ist in einer Diskussion der Klügere, der, der den Standpunkt des anderen verstehen kann. Er hört einen Widerspruch, denkt diesen durch, ob er plausibel ist und versucht zu lernen. Nach der Diskussion versteht er die Schwachpunkte der neuen Meinung und kehrt zu seiner ursprünglichen Meinung, nachdem er deren Schwachpunkte ausgemerzt hat, zurück. Aber dann ist es zu spät. Der Unklügere hat gewonnen.
Bei Macht geht es nie darum, etwas Gutes oder Verdienstvolles zu machen. Man verkauft das zweit- oder drittbeste Produkt; man promotet eine Flasche zum Professor, wenn es dem eigenen Machtgewinn dient. Aber nicht jeder Mensch in einer mächtigen Position ist wirklich mächtig. Gerade Politiker schämen sich etwas Verkehrtes zu sagen und stehen nicht konsequent zur einmal geäußerten Meinung. Die hier bestimmenden Gestalten agieren unsichtbar aus dem Hintergrund. Nur schamlose Politiker, die mit eigenen Meinungen vortreten und diese konsequent verteidigen, sind wirkliche Machtmenschen.
Aber auch dem mächtigsten Menschen droht es alt zu werden und zu sterben. Diesen Feind kann er nicht besiegen. Er kann mit diversen, manchmal auch scheußlichen, Mitteln versuchen, das Alter aufzuhalten. Aber es wird ihm nicht gelingen. Auch kann er versuchen, über seinen Tod hinaus etwas zu schaffen, das sein Leben überdauert. So erzählte der Gründer eines Softwarehauses, bei dem ich mal unter Vertrag war, wie sie ihre GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hatten, damit „die AG nicht an Personen gebunden ist und so den Tod der Gründer überdauern kann“. Andere versuchen sich als philanthropischer Weltenlenker, die der Restmenschheit vorschreiben, wie sie zu leben haben.
Manche stellen sich dem Alter und akzeptieren den letzten Rest vom Leben, als ebendas. Dann blicken sie zurück, erinnern sich an die Anfänge und die Wendepunkte im Lebenslauf. Ohne sich zu schämen, durchdenken sie verschiedene Möglichkeiten, ein Zweck ihres eigenen Daseins zu erkennen. Als Machtmenschen sind sie gewohnt, für die Richtigkeit ihres Standpunkts öffentlich einzutreten. Deswegen finden sie eine befriedigende Erklärung, wissen dann, warum sie gelebt haben und können friedlich sterben.
Der Weg zum Wissen ist damit etwas eher persönliches und nichts absolutes.