Sie machen tatsächlich zu


murmelte sie und schaute mich an. „Hier, da steht das“, sie deutete auf den Begrüßungsschirm, den ich noch nie auf einem Laptop gesehen hatte. Ich kämpfte nach dem gestrigen Absturz ziemlich mit einem Kater. Vorne wurde das Gespräch auf Zukunftsvisionen gelegt und hier hinten saßen ich und ein ebenfalls verkaterter Exchef mit dieser Kollegin, die nie mit zum Essen ging, an einem Tisch ganz hinten im Saal.

Es war Freitag, der 13. Februar 2020. Der offizielle Teil vom Teamevent bestand im Diskutieren und Vorstellen und Erarbeiten von Ideen zur Zukunftsfähigkeit des zu betreuenden und weiter zu entwickelnden Produktportfolios. Am Abend vorher war der gesellige Teil des Events, wie zu erwarten war, ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Wir sollten in die Kunst der Nudelherstellung, -zubereitung und -verkostung hierarchieübergreifend eingeführt werden. Grüppchen aus Leitungspersonal und Fußvolk knetete Nudelteig, formte daraus Nudeln, schnitt Zutaten, kochte Gehacktes und trank dazu Bier oder Wein. Die Hierarchien verschwanden nicht ganz. Kurz nur kritisierte ich den Chef-Chef, dann war es mir egal, ob das Gehackte anbrannte. Der Absturz nach der Verkostung kannte keine Hierarchie mehr.

Alle Teams des Großraumbüros waren vollständig dabei. Wochen vorher kämpfte die Mehrzahl der Kollegen mit einer heftigen Erkältung, von der alle redeten. Es war aber keine Grippe, wie eine Kollegin bekräftigte, deren Hausarzt immer darauf testete und bei ihr und ihren Kindern nichts gefunden hatte. Ein Kollege erzählte, er hätte nur geschlafen, soviel wie schon lange nicht mehr. Weder ich noch meine Frau waren richtig erkältet.

Corona spielte sich für mich im Fernsehen ab. Hier sah ich, wie die Italiener noch schnell versuchten nach Süditalien zu fliehen, als die Lombardei abgesperrt wurde. Auch gab es die Berichte von dem Hotel in Teneriffa, in dem immer noch Touristen eingesperrt waren, die sich dann beschwerten, dass die Putzfrauen ihre Gummihandschuhe nicht wechselten. Überhaupt war Hygiene ein Thema. Es sollte, wie eigentlich schon immer, in die Armbeuge geschnieft und gehustet werden und auf keinen Fall in die offene Hand. Dazu galt es die Hände gründlich zu reinigen. In einem Fernsehspot zeigte Ursula von der Leyen wie das richtige Händewaschen mit Seife in den Zwischenräumen der Finger geht. Am Eingang der Kantine gab es auf einmal einen Spender eines Desinfektionsmittels. Unser Werkstudent war begeistert: „Ich liebe den Geruch von Desinfektionsmittel, ahhh“ skandierte er, als der diesen entdeckte. Er rieb sich die Hände mit dem Zeug ein und roch genüsslich daran.

Masken waren zu der Zeit noch gar kein Thema. Im Büro wurde aber die Preisentwicklung bei OP-Masken erörtert:

„Habt ihr von dem Cleverle aus München gehört? Der hat für ein paar Cent pro Stück OP-Masken in großem Stil geordert und bietet die nun mehr als einen Euro das Stück an. So eine Schweinerei!“, erboste sich eine Kollegin.

„Das ist genau das Kreuz mit unserer Marktwirtschaft. Eine Nische erkannt, hinein investiert und nun gönnt ihm keiner den Erfolg.“, entgegnete zu meiner Verblüffung der junge Projektleiter. Mir gefiel diese Deutlichkeit, da hatte ich mit meiner Einschätzung des Teams wohl alles richtig gemacht.

Die OP-Masken verteuerten sich, weil der Nachschub aus China stockte und nicht weil sie zum Infektionsschutz eingesetzt werden sollten. Überhaupt wäre das hier gar nicht vorstellbar. Obwohl ich damals schon einen Chinesen in der U-Bahn gesehen hatte, der eine Maske, diese aber nasenfrei, trug.

Das Teamevent mit nachfolgendem, ernsthaftem Tag wurde sorgenfrei geplant und bis zum Mittag blieb es auch dabei. Als die Kollegin ihren Laptop einschaltete, schaute ich aus Langeweile zu. Es war ein kleiner, flacher und leichter Laptop. Was wollte sie damit?

„Nur mal eben emails checken?“, antwortete sie.

„Du kommst von hier ins Firmennetz? Das ist doch so abgeschottet vom Büro kommen wir nicht heraus und Du kommst vom Hotel mit ungeschütztem Internet hinein?“.

Sie schaute mich entgeistert an, holte Luft und erklärte: „Das geht hier mit VPN und dem Dongle hier. Einfach reinstecken und dann PIN eingeben und schon bist Du drin. Dann ist das genauso wie in der Firma. Nur mit kleinerem Bildschirm.“

Ich fragte mich, wie genau das wohl funktionieren sollte, sagte nichts, und sie interpretierte das wohl als Aufforderung noch mehr zu erklären: „Damit könnten wir von zu Hause aus arbeiten, war bisher immer eher die Ausnahme, weil er sich so schwer tut“, sie zeigte dabei auf meinen Nachbarn, der vor sich hinträumte.

Ihr „Sie wollen tatsächlich …“ nahm ich gar nicht richtig zur Kenntnis, denn vorne wurden die Diskussionen interessanter. Es ging um den Kauf von innovativen Softwarehäusern. So könnte man sich die Entwicklung sparen und hätte auch motivierte Mannschaften.

„Geht es heute nicht darum, dass wir doch motiviert werden sollen?“ weckte ich meinen Exchef, der nur „lass man“ meinte.

Es gab noch eine Kaffeepause und ganz zum Abschluss kam dann die Ansage: „Wie es sich vielleicht schon herumgesprochen hat, werden wir ab Montag die Standorte schließen. Wer einen mobilen Arbeitsplatz hat, bleibt bitte zu Hause, für alle anderen wurde ein solcher bestellt. Im Lauf des Montags solltet ihr den bekommen. Das ganze geht voraussichtlich nur ein paar Wochen, das werden wir schon schaffen.“

Die einen freuten sich über das home office, das nun endlich erlaubt war. Andere fragten, ob das mit den Bestellungen wohl wirklich klappen würde. Ich nahm das einerseits gelassen. Zu meiner freiberuflichen Zeit war ich schon im home office. Das war nichts neues. Aber ich war doch so zufrieden mit dem tollen Team. Ich wollte mich doch dort einbringen. Zum Glück sollte das nur vorüber gehend sein und die Möglichkeit mal ein paar Tage zu Hause bleiben zu können, war ja auch nicht zu verachten.

Meine Frau hatte von ihrem Arbeitgeber noch nichts ähnliches gehört und so gestalteten wir das Wochenende wie sonst auch immer. Am Freitagabend ging es in eines der Lokale in der Nachbarschaft, am Samstag zum shoppen und schauen in die Stadt. In der Hemdenabteilung eines Kaufhauses sah ich neue Frühlings- und Sommerfarben, die ich mir vorstellen könnte demnächst zu kaufen. Der Verkäufer machte dann aber Druck: „Wenn Sie die Hemden haben wollen, kaufen Sie sie nun, wir wissen nicht, ob wir nächsten Samstag geöffnet haben.“

Auf Nachfrage meinte er noch: „Offiziell ist noch nichts beschlossen, aber uns wurde gesagt, ab Mittwoch könnte es sein, das wir dann erst einmal schließen oder einschränken oder so.“

Die pastellfarbenen Hemden waren der erste Kauf, den ich unter Zeitdruck gemacht habe. Normalerweise überlege ich mehrfach, ob ich das Ausgesuchte auch wirklich brauche und meistens kaufe ich es dann eben nicht. Bei der nächsten Einkaufstour konnte man etwas besseres finden oder man brauchte es dann doch nicht.

Ich zog die Hemden zwei Jahre später an.

Am Montag nahm ich einen leerem Rucksack mit ins Büro. Wie immer kam ich früh um Sieben an. Viele von denen, die um diese Zeit schon da waren, fehlten. Der Exchef hatte seltsamerweise auch noch keinen mobilen Arbeitsplatz. Er erklärte mir, wie das mit dem Ausrüsten ablaufen sollte:

„Wir werden angerufen, wenn das Ding fertig ist, dann kann man das unten im Service abholen“.

Einer nach dem Anderen bekam einen Anruf, verließ das Büro und verschwand. An die letzten Worte einer Kollegin aus dem Thüringischen kann ich mich noch erinnern:

„Wir werden uns wohl die nächste Zeit nicht mehr sehen“, sagte sie. Auf meinem fragenden Blick meinte sie nur: „Du glaubst doch nicht, dass das so schnell wieder vorbei geht“.

Ein letztes, gemeinsames Frühstück in der Kantine gab es nicht.

Im Service gab es dann meinen mobilen Arbeitsplatz: ein Notebook, ein USB-Stick mit Schlüsselkarte und eine Notebooktasche. Dazu gab es eine Umhängetasche, so dass ich den Rucksack eigentlich gar nicht gebraucht hätte. In der U-Bahn fasste ich den Entschluss beim Karstadt nach den Hanteln zu sehen, die ich immer mal wieder kaufen wollte, aber bisher nie gekauft hatte. In den Rucksack sollten sie passen und vermutlich schließt die Muckibude auch.

In der Sportabteilung angekommen erwartete mich ein trauriger Anblick. Anscheinend waren auch andere auf die Idee gekommen zu Hause trainieren zu wollen. Das Regal mit den Hanteln und Gewichten war ziemlich geplündert.

Im untersten Regal war noch ein unscheinbarer Karton auf dem ein junger, muskelbepackter Mann mit Bizeps und Kurzhantel zu sehen war. Es war nicht ganz leicht. In dem Set waren zwei kurzen Stangen, acht 1Kilo und vier 500g Metallscheiben. Zusammen wären das etwa sechs Kilo pro Hantel. Damit wäre eigentlich ein Anfang gemacht, aber die Langhantel, mit der ich in der Muckibude trainierte, hatte 25 Kg. Im Nachbarfach waren auch die passenden Erweiterungsscheiben á 2,5 Kg. Mit vier Scheiben hätte ich ein Gewicht von 22 Kg, also ginge das.

Ein junger Mann näherte sich dem Regal. Er schien auch auf der Suche nach Trainingsgerät und beschleunigte meine Kaufentscheidung. Ich nahm die Pakete zur Kasse, bezahlte und verstaute sie im Rucksack. Zunächst trug ich ihn auf den Händen, weil ich den Nähten dann doch nicht traute, aber sie schienen zu halten und ich schulterte das Ding. Mit 20 Kilo auf dem Rücken lief es sich schon anstrengender. Beim Verlassen des Karstadt fühlte ich die Befriedigung etwas ergattert zu haben. Was konnte ich noch in der Stadt tun?

Am Samstag war alle Friseure belegt. Auf dem Weg zur Straßenbahn gab es zwei Salons, die ich schon mal besucht hatte. Es galt die Zeit des „noch ist alles offen“ zu nutzen. Die Friseure neben der Commerzbank hatten Montags geschlossen. In der Straße mit den Striplokalen war noch ein Laden. Ich lief den Umweg mit schwerem Gepäck und tatsächlich war hier geöffnet. Zwar waren nicht die Mädchen da, sondern eher eine rustikal-rundliche Frau. Es lief im Hintergrund Country oder 70er Jahre Rock.

Kaum sagte ich etwas vom beginnenden Lockdown, da legte sie schon los:

„Da sagen se was. Die drehen alle komplett durch. Es ist nur noch Corona, mit etwas anderem brauchen Sie gar nicht zu kommen. Mein Sohn kam gestern Nachmittag nach Hause und hatte sich das Bein aufgeschnitten. Das musste ja irgendwie genäht werden oder so. Wir haben alles versucht, ihn in eine Ambulanz zu bekommen. Drei Krankenhäuser haben wir besucht, alle meinten da können sie sich nicht drum kümmern. Sie hätten Seuchenalarm.“

Ich konnte nur so etwas wie „wie echt jetzt“ kommentieren.

„Die sind voll durchgedreht. Zum Glück trafen wir unseren Nachbarn an, als wir wieder zurück nach Neumarkt kamen. Ein Freund vom ihm ist ja Arzt und der hat sich dann darum gekümmert. War ja eigentlich nicht so schlimm, aber was bilden die sich ein …“

Das weitere Gezeter habe ich vergessen. Irgendwie schaffte sie die Frisur zu Ende, ich zahlte und traf vor der großen Ankündigung in der Wohnung an.

Sie kam in dieser Form vollkommen unerwartet. Ich schaltete, wie immer daheim, das Radio ein. Die Moderatoren sprachen von der Verkündigung des Ministerpräsidenten, die demnächst kommen sollte. Sie hörten sich nicht lustig und locker, sondern ehrfürchtig an. So hatte ich das noch nie gehört. Auf allen Sendern gleichzeitig sollte die Ansprache übertragen werden.

Kopfschüttelnd nahm ich den mobilen Arbeitsplatz in Betrieb. Das klappte ohne irgendein Problem. Im Hintergrund hörte ich eine Art lauten Gongs und „Es spricht der Ministerpräsident“.

Mich hatte es umgehauen.

Mein Gedanke war „Was ist das? Haben wir jetzt Volksempfänger?“

Ich wusste, die Dinge würde nie mehr so sein, wie vorher.


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