Die Nürnberger bringen den Virus


„Pottenstein wurde am Sonntag von Nürnbergern besucht. Dabei sollten doch alle mal daheim bleiben. Die schleppen das Virus in die Dörfer. Du hättest meinen Chef hören sollen“, teilte mir meine Frau mit, als sie am Montag, dem 23. März 2020 nach Hause kam. Meine Frau war unentbehrlich in ihrem Labor und hatte sogar eine Sondererlaubnis von ihrem Arbeitgeber. Falls sie kontrolliert werden sollte, könnte sie damit immer zur Arbeit kommen.

Wir waren die, die am Sonntag vorher in Pottenstein eingefallen waren. Wir mussten wandern!  In eine Tupperdose kamen belegte Brötchen, gekochte Eier und Salzstreuer. Das war für mich vollkommen neu. Ein paar Wochen vorher schauten wir nur nach, ob genug Bargeld im Geldbeutel war. In einen kleinen Rucksack kam, neben der Provianttupperdose eine kleine Plastikflasche Limonade.

Pottenstein war das Ziel. Wir kannten kein anderes Ziel in der Fränkischen Schweiz. Die Fahrt war genauso unheimlich, wie der Gang zum Bäcker am Tag vorher. Ich ging jeden Samstag zum Bäcker. An der Kreuzung fiel mir die Stille auf. Ich warte auf Grün und hörte Vogelstimmen. Laute Vogelstimmen hörte ich am 21.3.2020 um etwa neun Uhr an einer Kreuzung, die um diese Zeit sonst immer befahren war. Nicht ein Auto fuhr auf dem gesamten Weg. Durch die eher hohen Häuser an dem Platz, mit der Stille und dem Gezwitscher dachte ich, ich wäre in einem Endzeitfilm wie zum Beispiel „12 Monkeys“.

Zum Glück waren ein paar Autos auf der Autobahn Richtung Berlin. Aber auf der Landstraße nach Pottenstein sahen wir keines. Pottenstein war totenstill. Trotzdem zahlte ich am Parkautomat für den Parkschein. Vor einigen Jahren waren wir von hier nach Gößweinstein gewandert, daran hatte ich mich erinnert und das wollte ich wieder machen. Wir gingen die Hauptstraße entlang, vorbei an einer Brauerei, die mir so damals nicht aufgefallen war. Ohne Autos ließ sich die alte Fassade mit den Malereien bewundern. Anscheinend hatte Pottenstein ein Lokal zum Feiern mit Busparkplatz im Hof.

Ein Schild wies zum Wallfahrerweg nach Gößweinstein. Steil ging es nach oben zur Kreuzkapelle. Es handelte sich um eine Nische mit Kreuzigungsgruppe, die durch ihre eigene Schlichtheit und der verlassenen Stadt im Tal unten eine eigentümlich tröstende Wirkung auf mich hatte. Es stellte sich ein Gefühl ein, dass das, was wir machten, richtig war.

Danach wanderten wir einsam geradeaus durch den Wald. Wir trafen keinen Wanderer. Nur vom Waldrand aus sahen wir in der Nähe eines Dorfes ein paar menschliche Wesen auf einer Wiese. Der Rückweg verlief durch das Püttlachtal, vorbei an einem leeren Campingplatz und unbekletterten Felsenhängen. Zurück in Pottenstein entdeckte ich Tore in der Felswand, die zu einer unterirdischen Gastronomie führten. Im Sommer könnte hier gefeiert werden, dachte ich. Am Parkplatz angekommen, sahen wir einsam unser Auto stehen. Es ging über eine leere Landstraße zurück zur kaum befahrenen Autobahn und danach zum Parkplatz vor dem Hochhaus. Erschöpft aber glücklich kamen wir zurück. So würden wir unsere Sonntage bestreiten, beschlossen wir.

Die erste Arbeitswoche verlief erstaunlich unspektakulär. Im home office arbeitete es sich gefühlt etwas mehr als im Büro. Immerhin fing ich schon morgens um halb sieben an und blieb bis etwa fünf Uhr Nachmittags am Rechner. In diesen elfstündigen Arbeitstag integrierte ich bequem Spaziergänge, Laufrunden und das mittägliche Kochen. Mit einem „virtuellen Frühstücken“ sollte der Teamspirit erhalten bleiben. Das Notebook kam auf den Esstisch und ich sah Kollegen beim Frühstücken zu.

Zunächst war es interessant zu sehen, wie die Kollegen es sich eingerichtet hatten, aber die Gespräche verliefen bei weitem nicht so ungezwungen, wie in der normalen Welt. Konnte ich dort mit meinem Gegenüber oder Nachbarn reden, so hörten hier alle zu. So erzählte ich von einer Fernsehsendung am Abend vorher, bei der die Auswirkungen der winterlichen Isolation auf die Gehirne von Antarktisforschern untersuchte:

„Wenn man in geschlossenen Räumen ist, baut das Gehirn das räumliche Verständnis ab und es gibt wohl messbare Veränderungen. Gestern im Fernsehen …“

„Der Thomas erzählt mal wieder was. Die Gehirne werden kleiner durch den Lockdown“, grätschte einer in meinen Redefluss. Alle lachten und das Thema war vom Tisch. In der Kantine wäre das anders verlaufen.

Das zweite Wochenende ging es wieder in die Fränkische Schweiz, aber nicht nach Pottenstein. Die wollten uns nicht, also fuhren wir weiter in das Tal hinein. Auch dort ging es steil aus dem Tal heraus. Oben war eine Art Ausflugsdorf mit zehn Häusern, davon drei Gaststätten. Der Blick ins Tal war von hier oben schon beeindruckend. Gewürdigt wurde dieser nur von uns. Die Einwohner schienen sich auch hier in den Häusern aufzuhalten.

Auf der Rückfahrt wurden wir von der Polizei angehalten. Es waren drei Polizisten, ein ganz junger Mann, eine etwa dreißigjährige Frau mit blondem Pferdeschwanz und ein älterer Mann. Der junge Mann näherte sich der Fahrerseite, meine Frau senkte die Scheibe und hörte: 

„Sie kommen aus Nürnberg, was machen Sie hier?“

„Wir waren Wandern.“

„Ah so“, er wandte sich an die anderen „Wandern?“ Der Ältere meinte „In Nürnberg geht das nicht. Da müssen die schon raus.“.

Danach meinte der Jüngere „Ich führe dann eine Kontrolle durch, Führerschein und Fahrzeugschein bitte“. 

Meine Frau händigte diese aus. Es schloss sich eine Kontrolle des Verbandskastens an, bei der sie den Kofferraum öffnete und ausstieg. Als ich ebenfalls die Tür öffnete, kam die blonde Frau dazu und griff an ihren Elektroschocker. Meine Frau meinte, ich solle wohl besser drinnen bleiben, was ich auch tat.

Der junge Mann verabschiedete uns mit den Worten: „Trotzdem möchte ich Sie bitten, doch den Anweisungen unseres Ministerpräsidenten zu folgen und demnächst eher um Nürnberg zu wandern.“.


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