ACAB


Unser Nachbar kannte den Begriff zwar nicht, aber er meinte das ausdrücklich genau so, wie die Übersetzung des Acronyms ACAB eben lautet: „All Cops Are Bastards/Alle Polizisten sind Bastard“. Das hätte ich so nicht erwartet. Immerhin handelte es sich um einen Taxiunternehmer im Ruhestand. Wir trafen ihn am Tag nach der Querdenkendemonstration an der Meistersingerhalle Anfang September 2020.

Schwer atmend und eher laut, wie es für einen schwerhörigen Senior normal ist, kommentierte er das Schauspiel vom Samstag vorher: „Klar dürfen die demonstrieren. Das ist ja ihr gutes Recht. Aber dann doch in der Stadt, wo sie gesehen werden. Aber das wollen die ja nicht. So haben sie nur für uns demonstriert. Das hat doch keiner gemerkt. Wir haben die Polizei gehabt. Und die will doch keiner sehen.“

Ich runzelte die Stirn und er brüllte los: „Die mit ihrer Montur, wie die dastanden. Wer will denn das sehen? Das macht mir doch Angst, die will ich hier nicht haben. Es hat doch jeder schon mal Ärger mit denen gehabt.“

Er konnte sich gar nicht beruhigen und deutete dann auf die Kugel neben der Straßenleuchte an der Straßenbahnhaltestelle. „Sehen Sie das. Da haben die eine Kamera drin und damit schauen die immer, was wir so machen. Jeder wie er mit der Bahn fährt, wird da beobachtet. Das sind …“

An der Stelle hatte ich gar nicht mehr so richtig zugehört. Mir fiel der Bericht von dem Raubüberfall auf ein Mädchen ein. Das passierte an eben dieser Haltestelle bevor wir unsere Wohnung bezogen hatten. An einem ganz normalen Wochentag im November 2013 gegen 21:00 stieg ein Mädchen aus der Bahn, überquerte die Straße Richtung Arbeitsagentur und traf dort auf einen Radfahrer, der es aufhielt. Er zückte ein Rambomesser und verlangte ihr iphone. Ich merkte mir die Geschichte, weil wir kurz zuvor den Kaufvertrag für die Wohnung unterschrieben hatten.

Die Kugel war mir nie aufgefallen, aber als der Nachbar sich über diese beschwerte, war ich der Staatsmacht schon dankbar, dass sie ihren Job machte und für ein wenig mehr an Sicherheit sorgte. Überhaupt hatte ich nie Ärger mit der Polizei gehabt. In Bayern wurde mir schnell geholfen. Als ich mich über die Jugendlichen im U-Bahnhof Bärenschanze beschwert hatte, gab es Polizeistreifen am frühen Morgen. Und auch als mir die neuen Laufschuhe vor der Wohnungstür gestohlen wurden, kam jemand vorbei, nahm ein Protokoll auf und versicherte mir, dass er einen Verdächtigen hatte. Die Staatsanwalt schrieb mir sogar einen Brief, in dem sie bedauerte, dass die Ermittlung dann doch fruchtlos waren.

Bei der Demonstration am Samstag gab es sehr viel Polizei. Am Abend vorher sperrten sie den Parkplatz ab und durchsuchten die Umgebung. Meine Frau musste ihr Auto in einer Nebenstraße parken, obwohl wir ein Jahresparkticket hatten. Ich erzählte ihr von den Querdenkern, die am nächsten Tag dort demonstrieren wollten. Wir waren gespannt, was passieren würde.

Am nächsten Morgen holte ich Brötchen und konnte eine Querdenkerin bestaunen. Der Gesamteindruck aus hübscher Frau mit blonden Haaren und blauen Augen, einem engen weißen T-Shirt mit der Aufschrift „Querdenken“ über der Brust schlug sich in meinem Gesicht und der Art wie ich sie anschaute nieder. Sie schaute spöttisch, herablassend zurück. Eigentlich wollte ich sie ansprechen und fragen, was geplant war. Sie kam der Frage zuvor, meinte im Vorbeigehen „Wir machen was“ und ließ mich stehen.

So kam ich zurück mit den Brötchen und dem Vorschlag sich die Demo vom Balkon aus anzusehen. Die Polizei hatte den gesamten Parkplatz mit einer Art Polizistenkette umzingelt. Im Abstand von zwei bis drei Metern stand ein martialisch gerüsteter Polizist. Der Helm mit Nackenschutz, die Arm- und Knieschützer und vor allem der Schlagstock verlieh ihnen einen Hauch von Samurai. Hier präsentierte sich die Staatsmacht und duldete keinen Widerstand.

An der Zufahrt zum Parkplatz hatte die Kette eine Lücke, die sich leider hinter den Sträuchern an der Ecke des Balkons versteckte. Wir konnten das eigentliche Geschehen dort nur erahnen. Dafür beobachteten wir in aller Ruhe die Haushaltsgemeinschaften, die von der Kongresshalle her kommend, an der Polizeikette vorbei bis zu ebendieser Stelle defilierten und eventuell Einlass fanden. Es waren bei weitem nicht so viele, wie bei den Konzerten in der Meistersingerhalle immer gekommen waren. Aber dafür boten sie zu dieser Zeit, als sowieso wenige frei herumliefen, einen Anblick. So kamen einige mit Aluminiumtrichtern auf dem Kopf und andere mit selbst gemalten Transparenten und Schildern. Mindestens eine Familie führte in einem Bollerwagen ihren Nachwuchs mit. An fahnenschwenkende Teilnehmer kann ich mich nicht erinnern, dafür an die aufgedonnerte Frau mit dem großem, geschmückten Dreirad. Es war mit roten Girlanden geschmückt und das Schild hinten verwies auf die rote Bühne, die wieder spielen wollte. Das fand ich zu der Zeit überraschend, dass ein Mitglied der roten Bühne bei den Querdenkern mitmachte.

Als der Platz voll und die Lücke geschlossen war, staute es sich vor der Polizeikette. Es gab eine Durchsage, dass der Platz voll und leider keine Teilnahme möglich sei. Auf dem Platz gab es vereinzelt Jubel, vor dem Lücke brüllten andere. In dem Tumult kam dann die nächste Durchsage. Wer das Anliegen unterstützte, sollte auf dem Platz bleiben und die, die das nicht wollten, sollten den Platz doch verlassen. Die Gegendemonstration sei in der Nachbarschaft. Direkt an der Halle wurde eine Lücke geöffnet und einige Gegendemonstranten verließen den Platz.

Die geballte Staatsmacht ermöglichte so die Demonstration der Coronapanikgegner unter Einhalt der damals gültigen Hygienevorschriften. Zu der Zeit fand ich die Idee zu einer gegnerischen Demonstration zu gehen und den Platz einfach zu besetzen abwegig, unfair und kindisch.

Von der Demonstration klangen Ansprachen herüber, von denen nur die Aufforderung doch bitte die Hygienevorschriften bezüglich Masken und Abstand einzuhalten verständlich war. Wir hatten auch genug gesehen und machten einen Spaziergang um den Dutzendteich. Als wir zurückkamen war immer noch Betrieb. Von dem Balkon hörten wir Gesang und Musik. Ein Mädchen sang „Die Gedanken sind frei“ zu einer Gitarre. Ich bemerkte auf dem Balkon zur linken meinen Nachbarn, der auch gespannt lauschte.

„Eigentlich müssten wir da doch rübergehen, oder?“, meinte ich zu ihm.

„Das ist so richtig Friedensbewegung und Antiatomkraft“, setze ich hinzu.

Er grinste und meinte: „Corona, na ja. Wir waren ja in Griechenland, da gibt es das überhaupt nicht. Das ist wohl nur bei uns.“

„Wie? Ihr wart tatsächlich in Griechenland?“

„Man muss halt einen Test machen. Das bekommt man am Flughafen. Aber kaum ist man aus dem Flughafen in Athen raus, ist alles wie früher. Man kann an den Strand und in die Tavernen. Da kontrolliert keiner.“

In mein ungläubiges Gesicht fügte er noch hinzu: „Die wundern sich da alle, warum wir hier so eine Panik schieben. Sind halt Griechen.“

Mehr ist mir von dem Gespräch gar nicht in Erinnerung. Meine Gedanken kreisten um die Möglichkeit doch noch an einen warmen und sonnigen Strand am Mittelmeer zu kommen. Wenn die Nachbarn das geschafft hatten, dann könnten wir das auch machen. Die Griechen waren von den vergangenen Urlauben immer als ein wenig unorganisiert und anarchistisch in Erinnerung. Zwei Wochen wollten im Herbst unter gebracht werden. Bisher schied Mittelmeer immer aus, weil die Berichte im Fernsehen frustrierte Kampftrinker zeigte, die mit Maske Sangria schlürften. Aber das waren Berichte aus Spanien und Italien. Wenn das in Griechenland nicht so gehandhabt wurde, was hielt uns ab?

In solchen Gedanken vertieft, beobachtete ich das Geschehen auf dem Parkplatz. Hier neigte sich die Veranstaltung ihrem Ende zu. Man bedankte sich und einige Teilnehmer verließen den Platz. Aber dann kam zum Schluss noch unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zum Vorschein. Diese schützte das Versammeln der Bürger zum Zweck der Parteigründung. Ich hatte davon schon in Telegramkanälen gelesen. Wenn eine Demonstration abgelehnt würde, könnte man eine Parteigründung anmelden. Das müssen die Ordnungsbehörden in jedem Fall erlauben. Und so geschah es auch an diesem Nachmittag. „Wir gründen eine Partei. Hier auf dem mittleren Parkstreifen versammeln wir uns. Mit der Polizei ist das so abgesprochen. Wer will, kann sich an der Diskussion beteiligen.“, hörte ich aus einem Megafon. Tatsächlich versammelten sich dort etwa zwanzig oder dreißig Personen, die hygienisch miteinander noch eine Weile diskutierten, während die Querdenkenleute ihre Bühne abbauten.

Das Gesehene bestätigte mich in meinem Glauben an die Behörden. Zwar galt auch für sie bei der aktuellen Coronapanik neue Vorschriften. Trotzdem hielten sie die Grenzen weitestgehend ein. An diesem Tag hatte ich das beobachten können. Aus den Medien las ich von Amtsgerichten, die die von den Gesundheitsministern der Länder verfügten Maßnahmen zurecht stutzten und einschränkten. So war es in Bielefeld bei den Tönniessubunternehmern, die in ihrem Wohnblock eingesperrt wurden. Es wurde nicht die ganze Stadt eingesperrt, sondern nur die betroffenen Wohnblöcke. In Mecklenburg-Vorpommern klagten Ferienhausbesitzer auf Zugang zu ihren Immobilien, der ihnen dann auch gestattet wurde. Für mich waren die Maßnahmen vorläufig, bis sich die allgemeine Panik gelegt hatte und das normale Leben wieder kommen würde.

Zwar war der Polizeieinsatz, typisch für Bayern, überdimensioniert. Das war in Bayern so üblich. Als wir noch im Johannis wohnten, brauste auf dem Heimweg ein Mannschaftswagen an mir vorbei. Am Ende der Strasse, wo es zum Lederersteg über die Pegnitz hinab ging, hielt er an. Kaum stand er, sprangen schon drei oder vier Polizisten in voller Montur heraus und eilten den Pfad hinab. Eine Frauenstimme zeterte laut. Ich wollte das mitbekommen und beeilte mich. Was würde mich unten erwarten? Gespannt schaute ich den Pfad hinunter und sah auf der Bank, direkt am Steg, ein Landstreicherpaar. Der Mann war wohl gar nicht ansprechbar, aber die Frau schrie aufgeregt auf die Beamten ein. Auch in diesem Fall wäre es mit einem Bruchteil an Personal bestimmt auch gegangen, aber waren sie in Bayern.

So fand ich das gut.


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