Ich will Sie nicht umbringen!


Er hatte seinen Mundnasenschutz nach unten gezogen, als er diese Warnung ausstieß. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen deuteten an, dass er es Ernst meinte. Mein Grinsen konnte er nicht sehen, da mein Mund- und Nasenbereich von dem, bei Besuchen von Baumärkten, vorgeschriebenem Lappen bedeckt war. So machte er sich zufrieden mit seiner Ansprache davon. Seine Frau zog er mit der anderen Hand hinter sich her und wir konnten zum Regal mit den Lichterketten vorrücken. Die vom Baumarkt hatten ihre Regale immer noch zu Sackgassen gebaut und die interessanten Produkte hinten platziert, so dass der Kunde sich immer das gesamte Sortiment zu betrachten hatte. Das mit dem Abstand ging nicht so richtig. Vermutlich war das auch der Grund für die unfreundlichen Blicke, die die beiden uns davor immer zugeworfen hatten. Wir sahen, dass die zwei vor den Ketten standen, die vielleicht passen würden. Seine Predigt, durch den Lappen gesprochen: „Wir sollen doch Abstand halten, das geht doch nicht. Sehen Sie denn nicht …“ überraschte uns. Da war mal einer, der wirklich in Panik war. Hätte er noch etwas gewartet, wären wir bestimmt wieder auf den Hauptgang zurückgegangen und hätten ihnen Platz gemacht. So lachten wir ihnen hinterher.

Am nächsten Samstag überraschte uns unser Sohn. An jenem Samstag sollte sein frisch geborener Sohn von der Klinik in seine Wohnung kommen. Meine Frau wollte unbedingt dabei sein und einen Blick auf den Enkel erhaschen. Also machten wir uns auf den Weg von Nürnberg nach Konstanz und zurück an einem Tag. Für die Schwiegertochter kochte sie eine Brühe, für den Enkel nahmen wir ein aufbewahrtes Kuscheltier mit. Auf der Fähre Meersburg nach Konstanz riefen wir den Sohn an. Auf diplomatischer Art machte er uns klar, dass die Wohnung Tabu wäre, in diesen Zeiten. Aber einen Spaziergang könnte er mit uns machen. Und so gab es zur Begrüßung Küsschen für die Mutter und Händedruck für den Vater. Etwa eine Stunde umrundeten wir den Stadtwald. Die Mitbringsel durften wir da lassen, aber Enkel und Mutter wurden nicht gezeigt. Sowieso hatte noch niemand den Enkel gesehen. Zunächst sollte die Kernfamilie zueinander finden, bevor der Kleine, dann durch andere Gesichter verwirrt werden würde. „Habt da bitte Verständnis“, ermahnte er uns. Wir verstanden und fuhren mit leerem Magen zurück. Diesmal nahmen wir die Autobahn über Stuttgart.

Bei der Raststätte Engen versuchten wir etwas zum Essen zu kaufen. Vielleicht hatte die Tankstelle einen Imbiss? Bei der Tankstelle gab es nur ein Fenster zum Bezahlen. Das Hotel mit der eigentlichen Raststätte weiter hinten am Ende des Parkplatzes war dunkel und verlassen. Was die Polizeistreife auf dem Platz genau suchte, war nicht direkt klar. Aber es waren doch unsere Freunde und Helfer. Und so hielt ich kurz an, meine Frau senkte die Scheibe, der Polizist beugte sich herunter und meine Frau fragte ihn: „Wo können wir hier etwas zu Essen kaufen? Es hat doch alles zu.“.

„Ja, ja hier gibt es nichts. Wo kommen Sie denn her?“

„Wir waren in Konstanz und wollten … „, meine Frau erzählte und er hörte geduldig zu.

Am Ende meinte er „Sie können es beim McDonald in Engen probieren. Die haben doch ein Drive In oder so. Am besten fahren sie dort hinaus.“ Er deutete auf einen Waldweg, der eigentlich nicht zu befahren war. Jedenfalls war dort ein rundes, weißes Schild mit rotem Rand. Auf meinen fragenden Blick meinte er nur: „Das geht schon klar. Ist ja nichts los. Sie fahren einfach immer geradeaus und dann nach links. Und schon …“, erklärte er den Weg zum McDonald.

Gespannt fuhr ich zu dem Verbotsschild für Fahrzeuge aller Art. „Ausgenommen Berechtigte“ stand auf dem kleinen, weißen Schild darunter. Mit der Erlaubnis des Uniformierten fuhr ich auf den Waldweg. Er führte unter die Autobahn auf eine Landstraße. Wir erinnerten uns das „links“ von der Erklärung und kamen schnell zu den McDonalds Schildern, die uns zu unserem baldigen Genuss gratulierten. In der Stadt selbst waren wir bei der Suche aber wieder auf unsere schon verblasste Erinnerung an der Wegbeschreibung angewiesen. Zum Glück sahen wir ein Pärchen, das wir mit Neuigkeit eines Restaurantsbesuchs überraschten. „Was wollen Sie denn da. Die sind doch zu“, war seine erste Antwort. Bei der Frage nach dem drive in erklärte sie uns die letzten Meter. Es gab sogar ein McRib!

Wieder in Nürnberg angekommen, erzählte ich meiner Mutter vom Besuch bei ihrem diplomatischen Enkel. Sie versicherte mir, sie hätte uns bewirtet. Ein Wort ergab das andere und schon verabredeten wir uns Weihnachten mit ihr zu feiern. Wir könnten bei ihr im Wohnzimmer übernachten. Zu dieser Zeit war das noch nicht richtig verboten. Die Ministerpräsidenten verfügten zwar entsprechende Verbote, die von den Medien auch als unbedingt einzuhalten dargestellt wurden, aber die Unverletzlichkeit der Wohnung war immer noch garantiert. Ohne Anlass gab es keine Hausdurchsuchung und ohne richterliche Anordnung schon gar nicht. Allerdings fragten wir uns in den Tagen vor Weihnachten, ob wir sie wirklich besuchen sollten. Immerhin war sie weit über 80 Jahre und da waren die problematischen Krankheitsverläufe im Bereich von Prozenten. Wir telefonierten.

„Was passiert, wenn wir Dich denn anstecken?“, fragte ich sie. „Wenn wir zusammen feiern und eine Woche später liegst Du flach“.

„Ich weiß doch sowieso nicht, ob ich das nächste Weihnachten erlebe. In meinem Alter muss man mit allem rechnen. Kommt vorbei und wenn ich es bekomme, weiß doch auch keiner, ob ihr das wart“, antwortete sie, „Und Daniela würde dann auch kommen“, fügte sie an.

War ich stolz auf meine Mutti!

Wir machten uns am Heiligabend auf den Weg von Nürnberg ins Rheinland. Die Autobahnen hatten wir ziemlich für uns alleine. Nach nicht einmal drei Stunden parkten wir vor dem Mietshaus. Wenig später fanden wir uns am Esstisch der Mutter wieder. Das von mir in den Tagen zuvor gekochte Hirschragout fand seinen Platz in der Küche, die Geschenke lagen in der Ecke unter dem weihnachtlich geschmückten Ficus.

Was hatte meine Mutter sich gefreut. Kurz nach der Begrüßung wies sie auf den Teppich im Wohnzimmer und meinte: „Hier könnt ihr doch schlafen, oder? Wir schieben den Couchtisch zur Seite und dann kommen hier die Yogamatten hin. Schlafsäcke habt ihr ja mitgebracht.“

„Wein genug für die Bettschwere haben wir auch mitgebracht“, lachte ich und meine Frau meinte: „Wenn es zu hart wird, schlaf ich auf der Couch“.

Damit war die Übernachtungsfrage geklärt und mein Bruder, der sich mit unserer Mutter die Wohnung teilte, bot Begrüssungsbier an. Er sah das Treffen eher kritisch, weil das ja eigentlich verboten sei. Aber andererseits war das schon eine seltsame Zeit, in der man niemanden zu sehen bekam, weil jeder daheim blieb.

Als es dunkel wurde, klingelte es. Es war tatsächlich die Tochter, die in den Niederlanden lebte, die den Weg zu ihrer Oma gefunden hatte.

„Wie war es an der Grenze? Hast Du auch einen PCR-Test gemacht?“, fragte ich als besorgter Vater.

„Kontrolliert hat in der Bahn keiner. War ja auch eher Regionalverkehr, da wissen die doch gar nicht, wer, wann über die Grenze fährt. Maske muss in Deutschland sein und Fahrkarte natürlich. Zurück wird das auch so gehen. Und wenn nicht, dann sieht man das schon“, war ihre coole Antwort.

„Die Daniela schläft bei mir im Zimmer. Ich hab da doch den Sessel zum Aufklappen. Und das gibt das ein Einzelgästebett“, erklärte die Oma.

Der Heiligabend verlief eigentlich wie vor Corona: Nach dem Verteilen der Geschenke, wurde Kartoffelsalat aufgetischt und anschließend gespielt. Wir spielten wieder Siedler und Rummikup, damit die Mutter auch mal gewinnt. Ich brach mein Geschenk an und trank zum ersten Mal indischen Whisky, den mir mein Bruder geschenkt hatte. Das Einzige, was an Corona erinnerte, waren die Ermahnungen des Bruders, doch bitte nicht so laut zu sein.

Am nächsten Morgen las ich im bonner Generalanzeiger, dass der Ministerpräsident Laschet mit seinem Erlass eigentlich nur das Treffen in öffentlichen Häusern, also Schulen und Behörden, verboten hatte, aber eben nicht in der privaten Wohnung. Meinen Bruder stimmte das nicht so richtig um, weil er nicht wollte, dass die Nachbarn über die Lockdownbrecher sprachen, obwohl das eigentlich auch egal wäre. Mit den Nachbarn hatte er zwar sowieso kaum Kontakt, aber er fühlte sich nicht so wohl dabei aus der Reihe zu tanzen. Zu seinem Glück trafen wir auf den Spaziergängen vor und nach dem Weihnachtsessen auf keine Bekannten.

Früh fuhren wir am zweiten Weihnachtsfeiertag zurück nach Bayern. In der Nähe von Frankfurt verkündete das Radio, dass der Ministerpräsident Söder niemanden nach Bayern lassen wollte. Kurz erinnerte ich mich an ein Video aus der Querdenken-Szene. Dort warnte eine Blondine vor Sektorenbildung innerhalb von Staaten, sodass man sich nicht mehr frei bewegen konnte. Aufmerksam passierten wir die Landesgrenze Bayern, aber von Absperrungen war nichts zu sehen.

Silvester fand zu zweit statt. Wir erstanden ein zwei Personen raclette und prosteten auf dem Balkon unseren Nachbarn zu, die sich beschwerten, dass ihr 20-jähriger Sohn immer da war. Wir hofften alle, dass es bald mit dem Blödsinn vorbei sei. So ginge das ja nicht weiter.

Feuerwerk gab es trotzdem. Obwohl offiziell keines verkauft wurde, stiegen ein paar Raketen auf. Der Nachbar zur anderen Seite warf mit seinem Sohn Böller vom Balkon.


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